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Stellungnahme zum Stuttgarter Atlas der Religionen

Pressemitteilung der gbs Stuttgart vom 1.12.2020

Die Stadt Stuttgart hat im Oktober das Themenheft "Stuttgarter Atlas der Religionen" veröffentlicht. Eine ausführliche Analyse dieses Werks hat die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) erarbeitet.

Der Ansatz dieses Themenhefts offenbart gravierende Schwächen, die hier skizziert werden und in dem fowid-Bericht beschrieben sind.

Mit dem "Atlas der Religionen" hat Stuttgart die Chance vertan, die bunte Vielfalt von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Stadt und der Region zu zeigen, aus denen dann ein lebendiges Bild dieser Aktivitäten entstanden wäre.

Wie es mit der "pflichtgemäßen religiös-weltanschaulichen Neutralität" (Zitat aus dem Themenheft) der Stadt vereinbar ist, dass der "Atlas der Religionen" offiziell von der Landeshauptstadt Stuttgart herausgegeben und von Beamten der Stadtverwaltung konzipiert und koordiniert wurde, erschließt sich nicht. Mit einem "Atlas der Weltanschauungen" und einem "Rat der Weltanschauungen" als Ansprechpartner, der auch nichtreligiöse Initiativen umfasst, könnte die Stadt zeigen, dass sie die staatliche Neutralität respektiert.

Die Relevanz von Religionen und die Religiosität der Stadtbevölkerung ("drei Viertel religiös", "ein Viertel Nicht-Religiöse") wird in dem Themenheft und auch in den Pressemeldungen zu seinem Erscheinen herausgestellt. Dies ist jedoch ein verzerrtes Bild: Weit weniger als die Hälfte der Stuttgarter Bevölkerung ist inzwischen Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche. Aber auch die formale Kirchenmitgliedschaft, über die das Melderegister Auskunft gibt, bedeutet längst nicht mehr Zugehörigkeitsgefühl und Religiosität. Die Gottesdienstbesuche gehen stetig zurück. Sie liegen deutschlandweit für die Mitglieder der römisch-katholischen Kirche nur noch bei 9,1 Prozent und für die der evangelischen Kirche bei 3,4 Prozent. Die Mitgliedschaft der Kirchen sinkt – auch demographisch bedingt – stetig und unaufhaltsam; bis 2060 werden sich die Mitgliederzahlen noch einmal halbieren, wie Prof. Raffelhüschen, Uni Freiburg, in der empirischen Studie des Forschungszentrums Generationenverträge "Kirche im Umbruch – Projektion 2060" vorausberechnet hat. Und Religion und Kirchen verlieren massiv an Glaubwürdigkeit, Relevanz und Bindungskraft.

Der im Atlas der Religionen angegebene Anteil der Muslime beträgt zudem eher 5 % als die ausgewiesenen 10 % (siehe fowid-Bericht).

Vielfalt ist mehr als religiöse Vielfalt. Das Stichwort "Vielfalt" wird im Themenheft 25-mal erwähnt – aber immer nur im eingeschränkten religiösen Kontext. In der Publikation "Das Vielfaltsbarometer 2019" der Robert-Bosch-Stiftung wird der Religion nur eine von sieben Dimensionen der Vielfalt zugewiesen. So hat die Stuttgarter Aktion "Vielfalt: 0711 für Menschenrechte" im Jahr 2018 zum 70-jährigen Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit mehr als 220 Gruppen und Initiativen der Zivilgesellschaft, Medien, Theatern, Galerien und Kinos ein eindrucksvolles, vielfältiges Gemeinschaftsprojekt veranstaltet. Die gbs Stuttgart gehörte zu den Unterstützern dieser Aktion.

Als Ansprechpartner der Stadtgesellschaft für religions- und gesellschaftspolitische Fragen gegenüber der Stadt Stuttgart wird in dem Themenheft der Rat der Religionen herausgestellt. Dies ist eine Anmaßung, eine inakzeptable Verengung der Stadt auf religiöse Ansprechpartner und eine Diskriminierung der Nicht-Religiösen. Religionen haben keine Berechtigung, für die gesamte Zivilgesellschaft die Werte zu bestimmen. Keine Religion setzt sich z. B. für die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Religion, für Ethikunterricht an den Schulen und für bekenntnisfreie öffentliche Schulen ein. Viele zivilgesellschaftlichen Themenbereiche haben ebenfalls nichts mit Religion zu tun.

Wie sich die satzungsgemäße Begrenzung des Rats der Religionen auf "gemeinsam interessierende Themen" auswirkt, kann man sehen, wenn man nach einer Reaktion auf die jüngsten islamistischen Terroranschläge in Frankreich und Österreich sucht; wer erwartet hat, einen Aufruf für die Meinungsfreiheit oder eine Verurteilung von Gewalt und Terror als Reaktion auf Verletzungen religiöser Gefühle zu finden, wird enttäuscht. Der Rat der Religionen veröffentlichte am 5. Nov. 2020 lediglich ohne weitere Erklärung eine nichtssagende Stellungnahme mit der Überschrift "Nein zu islamistischem Terror".

Referenzen:
fowid: Stuttgarter Atlas der Religionen:
https://fowid.de/meldung/stuttgarter-atlas-der-religionen
Religionsatlas (PDF):
https://ratderreligionenstuttgart.files.wordpress.com/2020/10/themenheft_atlas_der_religionen-rz-low-res.pdf